I. Akt

Prinzen der Grenze

Prolog

Tief in Gedanken versunken stapfte Grombad durch den Schnee. Um sich gegen den eiskalten Wind zu schützen, schlug der Schwarzork den pelzigen Kragen seines abgetragenen Fellumhanges hoch, welcher seine breiten Schultern bedeckte. Trotzdem fühlten sich Gesicht und Hände an, als würden sie mit Tausenden eiskalter Nadeln gespickt sein.

In weiter Ferne, an den schneebedeckten Gipfeln des Schwarzen Gebirges, ballten sich dunkle Wolken. Tiefes Donnergrollen hallte unheilverkündend von den Bergen herab. Weder war ein Tier des Waldes zu sehen, noch zu hören. Es schien so, als hielten selbst die Bäume den Atem an, in Erwartung eines Unwetters, das jeden Moment über sie hereinbrechen konnte. Eben bewegten sie sich noch sanft im Wind, im nächsten Augenblick mochten sie unter seiner Berührung zerbrechen.  

Grombads Stirn legte sich in Falten. Der trübe Wintertag schlug auf sein Gemüt, war gleichsam ein Spiegel seiner inneren Zerrissenheit. Er empfand die gleiche Anspannung wie die Natur um ihn herum, es kam ihm vor, als befände er sich im Auge eines Sturms, der schon beim nächsten Herzschlag mit unbändiger Kraft erneut über ihn herfallen konnte. Wie die mächtigen Bäume um ihn herum, so wappnete auch er sich innerlich gegen den Ansturm eines Gegners, den er nicht aufzuhalten vermochte. Furcht hatte Besitz von ihm ergriffen, bald würde nackte Angst an seinem Herzen nagen. Er kämpfte verzweifelt dagegen an und wusste doch längst, das er verloren hatte. Doch wenn er jetzt aufgab, würde die Angst ihn gleichmütig werden lassen. Wie hatte es nur so weit kommen können? Früher hatte er keine Angst gekannt, er hatte Feigheit verachtet und keinen Gedanken an die Zukunft verschwendet. Doch heute …

Grombad lachte verbittert. Noch im letzten Winter war er ein stolzer Krieger gewesen, den nichts erschrecken konnte. Seit damals hatte sich viel verändert, er hatte sich verändert. Wieder grollte Donner und riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Fröstelnd blickte er sich um und betrachtete den Wald, der unter einer dicken Schneedecke lag. Es war ein harter Winter, genau wie damals. Und genau wie damals wanderte er auch heute durch eine vor Kälte starrende Winterlandschaft. Der einzige Unterschied war nur, das er damals nicht allein unterwegs gewesen war. Jetzt erinnerte er sich wieder. Alles hatte an einem kalten Wintertag vor kaum einem Jahr begonnen. An einem Tag wie diesem. Würde es auch in diesen tief verschneiten Wäldern enden? Würde es heute enden?

Grombad erreichte den Begräbnisplatz seines Stammes. Hier standen die Bäume so dicht, das kaum Schnee den Boden bedeckte. In den Schatten der gewaltigen Baumriesen sah er die dunklen Umrisse alter Hügelgräber. Unter ihnen lagen Bosse der Eisenzähne begraben, deren Körper längst zu Staub zerfallen, und deren Namen vergessen waren. Die verschneiten Bäume ringsumher ächzten und stöhnten unter ihrer Last. Grombad bildete sich ein, die Verstorbenen versuchten zu ihm zu sprechen. Was wollten sie ihm mitteilen? Wie hätten sie sich an seiner Stelle verhalten? Was hätten die Helden längst vergangener Zeiten unter diesen Umständen getan? Grombad wünschte, er könnte die Ahnen um Rat fragen. Doch er war kein Schamane. Ihm war es nicht möglich, seine Seele vom Körper zu lösen und ins Große Grün zu schicken, um dort mit den Ahnen Zwiesprache zu halten. Es gab niemanden, den er in dieser Situation um Hilfe bitten konnte, er musste ganz allein damit fertig werden. Grombad wandte sich ab und stapfte weiter durch den Schnee, nahm nichts von seiner Umgebung mehr wahr. Mit jedem Schritt entfernte er sich weiter vom Lager und von der Gegenwart, tauchte immer tiefer in die Vergangenheit ein. Und er erinnerte sich …

Keilerei

Grombad schlug mit solcher Kraft zu, das Rüstung und Brustkorb seines Gegners gleichermaßen zerschmettert wurden. Blut spritzte ihm ins Gesicht. Nachdem er seinen Spalta aus dem Leichnam befreit hatte, blickte er sich um. Nicht weit von ihm entfernt hatte sich Urgat zwei seiner Gegner entledigt, die restlichen hatten fürs erste genug und ergriffen die Flucht. Grombad verspürte keine Lust, ihnen durch knietiefen Schnee und dichten Wald nachzujagen. Urgat schien es ähnlich zu gehen. Er schleuderte den Fliehenden Beschimpfungen und Flüche hinterher und stapfte dann mit blutiger Zweihandaxt auf Grombad zu. Unter seiner schweren Rüstung trug er ein Kettenhemd, seine Füße steckten in eisenbeschlagenen Stiefeln und auf dem Kopf trug er einen gehörnten Helm. Selbst seine Hände steckten in eisernen Handschuhen. Außer seinem Gesicht gab es nur wenige Stellen seines Körpers, die nicht gepanzert waren und an denen seine dunkelgrüne Haut zum Vorschein kam. Seine mächtige Zweihandaxt war ein Meisterstück orkischer Schmiedekunst und hatte bisher kaum Rost angesetzt. Dank gewaltiger Muskeln war Urgat imstande, die riesige Axt mühelos zu schwingen und selbst dickste Rüstungen zu durchschlagen. Mit grimmigem Gesichtsausdruck deutete der Schwarzorkboss auf Grombads blutenden Oberarm und erkundigte sich, ob er verletzt worden sei. Grombad schüttelte den Kopf. „Is‘ nur’n Kratza‘.“

Dabei war die Wunde recht tief und doch hatte sie bereits aufgehört zu bluten. Schon bald würde auch der Schmerz vergangen sein und zurück bleiben würde nur eine weitere Narbe auf dem an Narben nicht armen Körper des Schwarzorks. Grombad war eine nicht weniger beeindruckende Erscheinung, auch wenn er einen Kopf kleiner als Urgat und seine Rüstung nicht so massiv wie die seines Bosses war. Auch er trug eisenbeschlagene Stiefel und einen gehörnten Helm, so wie die meisten Schwarzorks des Mobs. Seine ungepanzerten Hände umklammerten noch immer beide Spaltaz, die heute zum ersten Mal seit Wochen Blut gekostet hatten. Grombad wünschte, es könnte öfter so sein. Doch während der Wintermonate gab es nur selten Gelegenheit für ein ordentliches Gemosche. Dafür kam es um so öfter zu Streitereien innerhalb des Stammes, die auch nicht selten durch Spaltaz gelöst wurden.     

Sein Gegenüber nickte, spuckte in den Schnee und sagte verächtlich: „Schwarzzahn-Orkze. Sin‘ va’dammt tief inne Wälda. Sollt’n bessa‘ aufpass’n un‘ uns nich‘ noch ma‘ inne Quere komm‘.“ Grombad brummte seine Zustimmung, während er den vor ihm im Schnee liegenden Ork betrachtete. Er öffnete dessen Mund, setzte seinen Spalta an und brach ihm mit wenigen geübten Handgriffen die langen Eckzähne heraus. Danach stopfte er sie in seine Tasche und blickte zu Urgat. Der Schwarzorkboss musterte aufmerksam die Umgebung und zeigte nicht das geringste Interesse für die Zähne der getöteten Orks. Er hatte so etwas auch nicht nötig. Urgat trug eine Kette aus Zähnen um den Hals, um die ihn viele beneideten. Ketten und andere Schmuckstücke aus den Zähnen erschlagener Gegner dienen den Grünhäuten seit jeher als Statussymbole, und so wie Menschen und Zwerge Gold und Edelsteine neben ihrer Verwendung als Schmuck auch als Zahlungsmittel einsetzen, tauschen auch Orks und Goblins Zähne gegen Rüstungen und Waffen ein. Naturgemäß verfügen Orkbosse über eine größere Zahnsammlung als gewöhnliche Orks und besitzen somit meist eine bessere Ausrüstung als solche. Auch Urgat bildete da keine Ausnahme. Sollten ihm die Zähne aber doch einmal ausgehen, so genügte allein seine Größe, um selbst dem dümmsten Ork klarzumachen, wem die besten erbeuteten Stücke zustanden.

Urgat brummte, mehr zu sich selbst: „Möcht‘ wiss’n, was die hier wollt’n.“ Dann lauter, an Grombad gewandt: „Sollt’n bessa‘ Borgut erzähl’n, was passiert is‘.“ Grombad nickte stumm. Die beiden bedurften nicht vieler Worte, um sich zu verstehen. Da Orks grundsätzlich wenig reden und meist durch Gestik, Mimik und diverse Knurr- und Grunzlaute kommunizieren, war dieses Verhalten durchaus nichts ungewöhnliches.  Ungewöhnlich hingegen war die tiefe Verbundenheit, die im Laufe der Jahre und nach unzähligen Scharmützeln zwischen Grombad und Urgat entstanden war. Hätte Grombad die Bedeutung des Wortes gekannt, er würde Urgat wohl als seinen Freund bezeichnen. In der von Misstrauen und Gewalt geprägten Orkgesellschaft kam so etwas nicht sehr oft vor.

Kurz nach Sonnenaufgang waren die beiden Schwarzorks vor lauter Langeweile zu einem Streifzug in die nähere Umgebung ihres Lagers aufgebrochen und dabei auf den Trupp Schwarzzähne gestoßen. Mit dem halben Dutzend überraschter Orks hatten sie kurzen Prozess gemacht, nur zwei von ihnen waren entkommen. Nun, nachdem sie den Gefallenen brauchbare Ausrüstung und Waffen abgenommen hatten, gingen sie schweigend zum Winterlager ihres Stammes zurück. Die Leichen der getöteten Krieger ließen sie liegen, wo sie gefallen waren. Am Himmel zogen unterdessen dunkle Wolken auf, die einen heftigen Sturm ankündigten.

Über dem in Dunkelheit gehüllten Wald begann soeben ein neuer Tag. Nebelschwaden kämpften gegen eine schwache Sonne und wurden dabei von grauen Wolken unterstützt, die schwer an ihrer Schneelast trugen. Das Orklager inmitten der dichten, urwüchsigen Wälder erwachte nur langsam zum Leben. Doch zwei schwer gepanzerte Grünhäute verließen bereits die relative Sicherheit der Palisaden und verschwanden im dichten Unterholz. In den meisten Zelten rührte sich jedoch nichts, so auch im größten und mit Abstand stabilsten Zelt des ganzen Lagers. Dort lag ein riesiger, fetter Ork blinzelnd auf einem Berg aus Fellen, mehr schlafend als wachend. Um ihn herum lagen abgenagte Knochen und ganze Fleischbrocken in verschiedenen Stadien der Verwesung. Doch er nahm den Gestank nicht wahr und würde nichts dabei finden, den Tag zu beginnen, indem er einige der Fleischreste verspeiste.   

Im Halbschlaf wälzte er sich von einer Seite auf die andere, während ihm verschiedenste Gedanken durch den Kopf gingen und ein erneutes abdriften in den Schlaf verhinderten. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Letzte Nacht hatte er geträumt. Das war an sich nichts ungewöhnliches, Borgut träumte oft und sehr lebhaft. Er betrachtete es als eine Segnung von Mork, nein, mehr noch als einen Gunstbeweis der Gottheit. Doch dieser Traum war anders, er erschien ihm wie eine Vision. Er hatte sich seiner Angst gestellt und sie bezwungen. Er hatte über die borstige, schnaubende, tobende, mit Hauern bewehrte Bestie triumphiert. Als er erwachte, erfüllte ihn ein Gefühl tiefster Zufriedenheit. Heute würde er sich etwas stellen, das er schon viel zu lange vor sich hergeschoben hatte.

Nachdem er noch einige Zeit über seinen Traum nachgedacht hatte, streckte er sich ausgiebig. Dann sprang er beschwingt von seinem Lager auf und legte sein Kettenhemd an. Borgut pflegte es nur selten abzulegen und schlief oftmals sogar darin. An einigen Stellen fehlten Kettenglieder, an anderen waren massive Rüstungsteile befestigt, was dem Ganzen das Aussehen von Flickwerk verlieh. Nun stülpte er sich den verbeulten, aber dennoch massiven Vollhelm eines bretonischen Ritters auf seinen fast quadratischen Schädel. Das Visier war ohne Verständnis für handwerkliches Geschick kurzerhand abgetrennt worden, um dem Träger freie Sicht zu ermöglichen. Den Helm zierte ein bunter, im Laufe der Zeit leicht verblichener Federbusch. Borgut hatte den Helm bei einem vorbei ziehenden Goblinhändler entdeckt und für den unverschämten Preis von einer ganzen Hand voll Zähne erworben. In Anbetracht von Borguts hoher Stellung hatte die gierige kleine Grünhaut den Preis nur leicht gesenkt, und der Gargboss musste dem Händler schließlich Gewalt androhen, um das Geschäft zu seinen Bedingungen abzuschließen. Beim Gedanken daran fletschte Borgut die Zähne. Er grollte dem Gobbo noch immer. Für diesen Preis hätte er eine komplette Rüstung erstehen können. Doch der Helm hatte ihm sofort gefallen und er war bereit, fast jeden Preis zu zahlen. Am Ende hatte sich der dreiste Goblin schließlich doch seinen Argumenten gebeugt. Als Borgut daraufhin lächelte, wirkte er gefährlicher als beim drohenden Zähne fletschen kurz zuvor.

Ein kalter Luftzug drang durch den nur notdürftig mit Fellen abgedeckten Durchgang. Borgut fröstelte und zog seinen zerschlissenen Fellumhang enger um seinen massigen Körper. Er nahm seinen rostigen Spalta und steckte ihn in den Gürtel. Schließlich stapfte er mit grimmigem, aber entschlossenem Gesichtsausdruck hinaus in den Schnee. Bisher hatte sich der Boss der Eisenzähne immer gescheut, ein Wildschwein zu reiten. Doch er wusste um die Witze und höhnischen Bemerkungen, die deswegen hinter seinem Rücken gemacht wurden und er war es leid, vom Boss der Wildschweinreiter herablassend angesehen zu werden. Kurz nachdem Grombad und Urgat das Lager verlassen hatten war Borgut in der Stimmung, seine erste Reitstunde in Angriff zu nehmen. Er musste es wenigstens einmal versuchen. Vielleicht fand er sogar Gefallen daran. Zu so früher Stunde begegnete er unterwegs nur wenigen Grünhäuten und das war auch gut so. Je weniger Orks und Goblins bei seinem ersten Reitversuch anwesend waren, desto besser. Also stapfte er mit klopfendem Herzen durch frisch gefallenen Schnee hinüber zu den Wildschweinställen, wo er gerade zur Fütterungszeit ankam.

Dutzende schnatternde Snotlinge flitzten im Gatter der Wildschweine herum und kümmerten sich unter den wachsamen Blicken einiger Goblins um die Hinterlassenschaften der Schweine. Die Goblins wiederum wurden von zwei gelangweilten Orks überwacht, die hin und wieder schweigend auf einen der stinkenden Haufen zeigten oder mit Tritten und Schlägen ihren Unmut über die ihrer Ansicht nach zu langsame Säuberung des Stalles äußerten.

Die Snotlinge waren mit Begeisterung bei der Sache und rollten den stinkenden Schweinekot zu kleinen Bällen, wie dies eine Käferart in der Arabianischen Wüste auch tut. Diese Kotbälle schafften sie zu einem Ort, den jede Orksiedlung aufweist und der meist eine stärkere Duftnote besitzt als der dreckigste Schweinestall. Genau genommen handelt es sich dabei um die am übelsten riechende Stelle eines Orklagers. Solche Orte sind im allgemeinen als „die Gruben“ bekannt. Dort angekommen warfen die Snotlinge die Kotbälle in selbige, oft geschah es aber auch, das sie eine „bessere“ Verwendung für den Schweinekot fanden, als ihn einfach wegzuwerfen.     

Die Wildschweine, die sich in einem abgegrenzten Bereich des Stalles befanden, standen oder lagen teilnahmslos herum und achteten nicht weiter auf das emsige Treiben der kleinen Grünlinge. Erst als sich zwei weitere Orks mit großen Eimern den Trögen näherten, kam Bewegung in den Schweinestall. Die Goblins kletterten blitzschnell über die stabile Umzäunung und brachten sich in Sicherheit. Die Snotlinge dagegen waren so vertieft in ihre Aufgabe, das sie sich vom plötzlichen Quieken und Grunzen der Schweine nicht stören ließen. Auch als das Gatter geöffnet wurde, reagierten die Snotlinge nicht. Erst als die Orks den übelriechenden Inhalt der Eimer in die Futtertröge entleerten und sich die Wildschweine darauf stürzten, stoben die Snotlinge panisch kreischend in alle Richtungen auseinander. Doch nicht wenige wurden von den wildgewordenen Schweinen zertrampelt oder endeten als willkommene Beilage in den Trögen. Ihre unfreiwillige Teilnahme an der Fütterung der Schweine würden die Snotlinge so bald nicht vergessen, infolge dessen würde der Stall lange nicht mehr gereinigt werden. Schließlich hatten die winzigen Grünhäute besseres zu tun, anstatt als Nahrungsergänzung für die wilden Reittiere der Orks zu dienen.

Diese amüsierten sich wie immer köstlich über die kleinen Grünhäute, als Borgut angeschlendert kam. Das Durcheinander im Schweinestall mit keinem Blick würdigend, steuerte er zielstrebig auf den Boss der Wildschweinreiter zu und verlangte mit fester Stimme ein Schwein für seine erste Reitstunde. Der verdutzte Boss zögerte nur kurz, dann eilte er in den überdachten Teil des Stalls und kehrte kurz darauf mit einem wütend grunzenden Keiler zurück. Mit einem boshaften Grinsen hielt er Borgut die Zügel hin. „Is‘ eins der zahmsten, hab’s persönlich zugeritt’n“, höhnte er.

Borgut ignorierte ihn. Während vier Orks das schnaufende Tier festhielten, schwang er sich  kurzerhand auf den Rücken der wilden Kreatur und ergriff das Zaumzeug. Dieses bestand aus einem einfachen Seil, das um die Hauer des Schweins gebunden war. Der Keiler schnaubte und grunzte bedrohlich. Sobald die Orks ihren Griff lockerten, begann er zu bocken und rannte los. Grünhäute verwenden im allgemeinen keinen Sattel für ihre Reittiere und so hatte Borgut alle Mühe, sich auf dem rasenden Schwein zu halten. Immer mehr Orks strömten zum Stall, um sich das Spektakel nicht entgehen zu lassen. Zur Verblüffung der Schweinereiter hielt sich Borgut erstaunlich gut. Er wirkte beinahe wie ein Rodeoreiter, sein Federbusch wippte hin und her. Gerade als der Keiler etwas ruhiger zu werden schien, trat ihm Borgut unbeabsichtigt in die Flanken. Daraufhin stürzte der Keiler vorwärts, durchbrach die Umzäunung des Stalls und rannte mehrere Orks über den Haufen. Während er über den Versammlungsplatz in der Mitte des Dorfes raste wurde er immer wütender über die Last auf seinem Rücken. Auch Borgut schien inzwischen genug von seinem ersten Ausritt zu haben und versuchte mit aller Macht, den rasenden Keiler zu stoppen. Die Orks folgten ihrem Gargboss und kamen gerade zur rechten Zeit um zu erleben, wie Borgut heftig an den Zügeln zog. Das Schwein quiekte und begann auf den Hinterbeinen durch den Schneematsch zu rutschen. Borgut dauerte alles zu lange, ruckartig zog er noch einmal die Zügel fester. Nun knickten die Vorderbeine des Keilers ein und schließlich bohrte er auch noch seine Schnauze in den Schnee, bevor er abrupt endgültig zum stehen kam. In diesem Moment gab es für Borgut kein Halten mehr und der Gargboss flog in hohem Bogen kopfüber in eine Schneewehe. Befreit von seiner Last, rannte der Keiler davon. Die Wildschweinreiter brüllten vor Lachen und hielten sich die Bäuche. Mit hochrotem Kopf wühlte sich Borgut aus dem Schnee und ging vor Wut schnaubend auf den erstbesten Ork los. Der Federbusch hing schlaff an den Seiten seines Helms herunter. Einige der klügeren Grünhäute hatten sich bereits wieder entfernt, doch die Wildschweinreiter lachten noch immer schallend. Als der Ork die drohende Gefahr bemerkte, versuchte er sich zusammenzureißen und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Doch Borgut war nicht für seine Nachsicht bekannt und schmetterte dem Ork seine Faust ins Gesicht. Der Schlag riss die Grünhaut glatt von den Füßen. Borgut wirbelte herum und funkelte die umstehenden Wildschweinreiter bedrohlich an. Deren Boss näherte sich beschwichtigend, während das Lachen seiner Jungs erstarb.

Ein plötzlicher Warnruf ließ Borgut herumwirbeln. Der Keiler erschien erneut auf der Bildfläche und hatte sich noch immer nicht beruhigt. Ohne zu zögern ging er direkt auf Borgut los. Die umstehenden Grünhäute sprangen zur Seite, um den Hauern der tobenden Bestie zu entgehen. Doch Borgut blieb wie angewurzelt stehen, zog seinen Spalta und trieb ihn dem wilden Eber kurzerhand in den Schädel, wurde aber noch von der Wucht des Aufpralls zu Boden gerissen. Da bemerkte Borgut ein Zucken im Gesicht des Wildschweinreiterbosses, und im nächsten Moment stürmte dieser auch schon, vor Wut und Trauer heulend, auf ihn zu. Wo er so schnell eine Waffe her hatte, konnte sich Borgut nicht erklären. Auch die plötzliche Wut des Orks war ihm völlig unverständlich. Doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Mit einem klobigen Speer in Händen wollte der aufgebrachte Boss den Gargboss für seine Missetat durchbohren. Der unwissende Borgut hatte das Reittier des Wildschweinreiterbosses getötet. Doch selbst wenn Borgut sich dessen bewusst gewesen wäre, war kaum anzunehmen, dass er angesichts der rasenden Kreatur anders gehandelt hätte.

Mit den Füßen stieß Borgut den Körper des toten Keilers von sich, rappelte sich auf und wehrte den Stoß seines Gegners mit dem Spalta ab. Durch den Schwung seines Angriffs taumelte der Wildschweinreiterboss an ihm vorbei und Borgut schlug erneut zu. Er riss eine klaffende Wunde in den Rücken des Bosses. Dieser ging vor Schmerz grunzend zu Boden. Blitzschnell stand Borgut über ihm und schlug ihm mit seinem Spalta den Kopf entzwei. Fassungslos standen die übrigen Wildschweinreiter vor dem Körper ihres toten Bosses.

Unterdessen schleifte Borgut mit wackligen Knien den Wildschweinkadaver in sein Zelt. Obwohl dort ein Feuer brannte und angenehme Wärme verbreitete, dachte Borgut nicht daran, seine Beute am Spieß über dem Feuer braten zu lassen. Vor lauter Frust begann er stattdessen, das Fleisch roh zu verspeisen. Dann ging ihm auf, dass die Wildschweinreiter einen neuen Boss brauchten. Keiner von ihnen war in der Lage, sich auf einem Schwein zu halten und den Mob zu führen. Zähneknirschend gestand er sich ein, dass er selbst nicht einmal ersteres fertig brachte. So hatte er sich seine Reitstunde bestimmt nicht vorgestellt. Doch sein Traum hatte sich erfüllt. Schließlich hatte er über die tobende Bestie triumphiert, wenn auch etwas anders, als er sich das gedacht hatte.

Wie ihn die Wildschweinreiter nach seinem Abgang vom Rücken des Keilers verspottet hatten! Wie konnten sie es wagen! Vermutlich verhöhnten sie ihn auch jetzt wieder. Borgut spürte erneut Wut in sich aufsteigen. Er erinnerte sich an die respektlosen Bemerkungen der Schweinereiter. Zornig warf er den Kadaver ins Feuer, so das Funken flogen und Borgut für einen Moment befürchtete, das Zelt würde über seinem Kopf abbrennen. Er würde die Wildschweinreiter für ihren Hochmut büßen lassen. Ihr Boss hatte bereits den höchsten Preis bezahlt. Nun würde er den anderen ihre Überheblichkeit austreiben.  

Borgut wusste nicht, wie lange er vor dem Feuer gesessen und sich eine angemessene Bestrafung überlegt hatte. Das Wildschwein war jedenfalls stark verkohlt. Er zog es aus den Flammen und brach eine Keule aus dem Körper. Das Fleisch dampfte und gierig schlang er es hinunter. Es schmeckte köstlich! Borgut langte mit beiden Händen zu und riss Fleischbrocken aus dem Kadaver, die er sich ohne innezuhalten in den Mund stopfte. Nach kurzer Zeit war von dem Schwein nur noch ein Gerippe übrig. Borgut rülpste befriedigt und rieb sich seinen hervorstehenden Bauch. Da kam ihm ein neuer Gedanke. Wer brauchte schon Wildschweinreiter! Schon morgen würden sie die Folgen ihrer Anmaßung zu spüren bekommen. Und bald würden sie sich daran gewöhnen müssen, zu Fuß in den Kampf zu ziehen. Borgut lachte leise vor sich hin und fragte sich, wie es sein konnte, dass soviel Genialität in einem Geist vereint war. Ja, er war in der Tat von den Göttern gesegnet.

Als Grombad und Urgat bald darauf das Lager erreichten, begann es leicht zu schneien. Der Wind hatte bereits deutlich an Stärke zugenommen und blies ihnen den Schnee direkt ins Gesicht. Die Orksiedlung lag auf einer großen Lichtung inmitten der dichten Wälder südlich des schwarzen Gebirges. Sie bestand aus mehreren Dutzend einfachen, windschiefen Holzhütten und armseligen Zelten aus rissiger Trollhaut und verblichenen Stoffen. Sämtliche Behausungen waren um den zentralen Versammlungsplatz angeordnet, wobei die Hütten der Bosse direkt neben dem Platz lagen, gefolgt von den Wohnstätten der Orkkrieger. Die Zelte der Goblins befanden sich am äußersten Rand der Siedlung, teilweise sogar außerhalb der niedrigen Palisade, welche den Siedlungsplatz umschloss. Die beiden Schwarzorks betraten das Lager durch das einzige vorhandene Tor und begaben sich zuerst zur Schmiede. Die Schmiede war das einzige Gebäude der gesamten Siedlung, bei dessen Bau zum Teil Stein verwendet worden war. Dort angekommen warfen sie die erbeuteten Waffen achtlos in den Schnee, dabei kümmerte es sie nicht, ob diese durch die Witterung Schaden nehmen könnten, und begaben sich auf direktem Weg zu Borguts Zelt. Als sie den Versammlungsplatz in der Mitte des Lagers überquerten, bemerkte Grombad Blutspuren im zertrampelten Schnee. Er machte Urgat darauf aufmerksam. Der Schwarzorkboss deutete daraufhin auf eine Schleifspur, die zum Zelt des Gargbosses führte. Beunruhigt näherten sich die beiden Schwarzorks weiter dem Zelt ihres Stammesführers. Das Zelt des Gargbosses war das größte und stabilste im ganzen Lager, und doch zerrte der Sturm bereits bedenklich an dessen Verankerung. Die Wachen ließen sie anstandslos passieren, und mit einem flauen Gefühl in der Magengegend betraten Grombad und Urgat das Innere des Zeltes.

Als sie die Felle am Eingang zurückschoben, atmeten die beiden Schwarzorks erleichtert auf. Borgut lebte und schien auch unverletzt zu sein. Der Gargboss saß mit dem Rücken zu ihnen gewandt vor einem kleinen Feuer und nagte an einem Knochen. Als Grombad und Urgat eintraten, neigte er leicht den Kopf, schenkte ihnen aber sonst keine weitere Beachtung. Urgat trat einen Schritt vor, räusperte sich und wollte melden, was im Wald geschehen war, doch eine Handbewegung Borguts ließ ihn innehalten. Den beiden Besuchern noch immer seinen breiten Rücken zugewandt, flüsterte Borgut kaum hörbar: „Raus.“

Er hatte es völlig emotionslos gesagt, und doch glaubte Grombad ein zittern der Stimme zu erkennen, so als versuche Borgut mühsam, seine Wut unter Kontrolle zu halten. Urgat blickte verblüfft zu Grombad. Der zuckte die Schultern und deutete zum Ausgang. Doch Urgat trat noch einen Schritt vor. „Aba‘ Boss, im Wald sin‘ Schwarz…“  

Nun verlor Borgut den Kampf um seine Selbstbeherrschung. Er wirbelte unvermittelt herum, sprang auf und brüllte: „Raus, allä beidä!“ Dabei deutete er mit zitternder Hand zum Ausgang. Überrascht über den plötzlichen Wutausbruch ihres Bosses standen Urgat und Grombad einen Moment unentschlossen da. Erbost darüber, das sein Befehl nicht sofort befolgt wurde, brüllte Borgut erneut: „Allä raus hia, un‘ zwa‘ sofort!“ und warf Urgat den abgenagten Knochen an den Kopf.

Sofort versteifte sich die Haltung des Schwarzorkbosses. Sein Unterkiefer schob sich vor, seine Augen wurden zu kleinen Schlitzen und glühten dabei wie Kohlebecken. Er ballte die Fäuste und gab ein zorniges Knurren von sich. Seine ganze Körperhaltung drückte nun eine unheimliche Bedrohung aus, die Grombad erschaudern ließ. Es hatte den Anschein, als wollte sich der riesige Schwarzork jeden Moment auf seinen Boss stürzen. Als seine Hand auch noch langsam zu der Zweihandaxt glitt, die an seiner Rückenpanzerung befestigt war, legte ihm Grombad beruhigend eine Hand auf die Schulter.

Borgut stand noch immer wenige Schritte vor dem vor Wut bebenden Schwarzork und streckte einen Arm zum Ausgang. Doch war ihm Urgats Reaktion auf seinen Wutanfall nicht verborgen geblieben. Um die angespannte Situation zu entschärfen, drehte er den beiden Schwarzorks erneut den Rücken zu. Grombad atmete erleichtert auf, offenbar wollte es Borgut nicht auf einen Kampf ankommen lassen. Doch Urgat schien diese Geste keineswegs zu besänftigen. Vielmehr umschloss seine Faust nun den Griff seiner Zweihandaxt und er machte Anstalten, die Waffe zu ziehen. Seine wutverzerrte Miene verriet Grombad überdeutlich, das er sie dann auch benutzen würde. Doch Urgat würde Borgut niemals hinterrücks erschlagen. Sollte sich sein Boss umwenden, erwartete Urgat zweifellos irgendeine Art der Entschuldigung, sollte diese jedoch ausbleiben, war er ohne weiteres in der Lage, seinen Boss mit einem Hieb in zwei Teile zu spalten. In diesem Augenblick wich Grombads Erleichterung einem Gefühl der Beklemmung. Er erkannte, das er nichts weiter tun konnte, um Urgat davon abzuhalten gegen Borgut zu kämpfen. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Nervös wischte er sie mit einer Hand weg, die andere ruhte noch immer auf Urgats Schulter. Wenn Borgut nicht sofort etwas unternahm, dann…    

In diesem Moment erkannte Borgut, das er überreagiert und einen seiner besten Krieger und fähigsten Bosse grundlos beleidigt hatte. Seine Wut verflüchtigte sich und für einige wenige Herzschläge ergriff ein Schamgefühl Besitz von ihm. Doch dieser Anflug von Schwäche verschwand genauso schnell wieder, wie er gekommen war. Noch immer drehte Borgut den Schwarzorks den Rücken zu. Da begann es zwischen seinen Schulterblättern zu kribbeln, ganz so, als wenn im nächsten Moment blanker Stahl in sein Fleisch schneiden würde. Wenn er jetzt nicht handeln würde, konnte es zu spät sein. Langsam, um Urgat nicht noch mehr zu reizen, wandte Borgut sich um. Er vermied es, dem Schwarzork in die Augen zu sehen und senkte stattdessen den Blick. Nachdem er einen Moment lang intensiv den schmutzigen Boden aus festgestampfter Erde betrachtet hatte, entschied sich Borgut schließlich doch, Urgat in die Augen zu blicken.

„Urgat, du hast’n Respäkt un‘ de Achtung vonne Orkze inne ganze Stamm. D’rum wirst’e von heute an meine rechte Hand sein. Zusamm’n mit Eiterzahn wirst’e mich berat’n un‘ meine Entscheidung’n im Stamm durchsetz’n.“

Borgut zögerte und beobachtete Urgats Reaktion. Der Schwarzorkboss schien verblüfft, seine Haltung entspannte sich ein wenig. Doch noch immer umschloss seine gewaltige Faust den Griff der Zweihandaxt auf seinem Rücken.

Borgut fügte hinzu: „Un‘ mein‘ Respäkt un‘ meinä Achtung hast’e auch. Du bist nach mir da bestä Kämpfa un‘ Taktika inne Stamm. Un‘ strategier’n kannst’e auch gut. D’rum sollst’e späta ma‘ mein Nachfolga werd’n.“ Borgut räusperte sich. „Wenn de nich‘ vorher im Kampf fällst.“

Nun entspannte sich Urgat völlig. Er ließ die Axt los, seine brutalen Gesichtszüge nahmen eine weichere Form an. Der Schwarzorkboss straffte sich und beobachtete gespannt seinen Oberboss. Borgut stand mit hängenden Schultern und erwartungsvollem Blick da und sagte kein Wort. Urgat nickte, dann entblößte sein breites Grinsen faulige Zähne und zwischen ihnen die Reste seiner letzten Mahlzeit.

Dieses Zugeständnis war in der Tat verblüffend. Bisher hatte sich Borgut nur von seinem Schamanen Eiterzahn beraten lassen und niemanden sonst in seine Pläne eingeweiht. Und erst recht kam es für ihn nie in Frage, einen einmal gefassten Entschluss auf Grund eines Vorschlages eines Untergebenen zu ändern. Nachdem sich die Lage beruhigt hatte, verlangte Borgut zu erfahren, was im Wald geschehen war. Die Anwesenheit der Schwarzzähne schien ihn jedoch nicht weiter zu beunruhigen. Nachdem alles geklärt war, verließen die Schwarzorks gutgelaunt das vom Sturm geschüttelte Zelt.